von Dr. Nikolaus Braun
Sehr geehrte Damen und Herren,
am Wochenende habe ich meinen Freund Andreas getroffen, der sich normalerweise für alles andere interessiert als die Börse. Wenn er mich nach meiner Meinung zu den Märkten fragt und was wir denn unternommen haben oder noch unternehmen werden, um das Vermögen unserer Mandanten zu schützen, dann muss wirklich etwas Außergewöhnliches passiert sein. Außergewöhnlich sind in der Tat die Zölle, die US-Präsident Donald Trump verhängt hat: Pauschal 10 Prozent für alle Einfuhren in die USA, 20 Prozent für alle Importe aus der EU, 34 Prozent für chinesische Waren – es folgten Kursstürze an den weltweiten Aktienmärkten.
Ich habe versucht, ihm zu erklären, dass wir unseren Mandanten gebetsmühlenartig erklären, dass Kursrückschläge und Krisen unvermeidlich sind, sich aber leider nicht prognostizieren lassen. Und: Dass es deshalb das Wichtigste ist, in einer Krise die Nerven zu bewahren, tief durchzuatmen, erst mal NICHTS zu tun – und sollten die Kurse weiter fallen, ein sogenanntes Rebalance zu machen, also die Aktienpositionen nachzukaufen.
Ein klassischer Denkfehler in einer Krise am Kapitalmarkt
Viel Erfolg hatte ich damit nicht. Originalton Andreas: „Jedem, mit dem ich bisher darüber gesprochen habe, war es schon seit Langem absolut klar, dass das passieren wird. Und wenn selbst ich das gewusst habe, dann hättet ihr doch vorher reagieren müssen, bevor es den Zusammenbruch gab.“ Zumindest sei es jetzt Zeit, dringend auszusteigen.
Schauen wir uns die These von Andreas mal etwas näher an und machen einen kleinen Fakten-Check. Denn so intuitiv nachvollziehbar Andreasʼ Aussagen sind, sie strotzen nur so vor Unkenntnissen und Denkfehlern:
1. In einem informationseffizienten Markt ist es völlig aussichtslos, durch Market Timing, also bewusstes Ein- und Aussteigen aus dem Kapitalmarkt, einen Mehrwert zu generieren. Im Gegenteil: Es ist ein fast todsicheres Rezept, Geld zu vernichten. In einer Krise aus dem Markt auszusteigen, ist DER GROSSE FEHLER für Kapitalanleger schlechthin.
2. Den richtigen Zeitpunkt für den Wiedereinstieg zu finden, ist fast unmöglich, zumal die stärksten und die schwächsten Tage am Kapitalmarkt oft ganz nah aneinander liegen und Rendite am Kapitalmarkt an ganz wenigen Tagen gemacht wird. Ende März 2020, auf dem Höhepunkt der Corona-Krise, erholte sich der weltweite Kapitalmarkt (MSCI All Country World Index) innerhalb von vier Tagen um 16,5 % Prozent. Wer nur diese vier Tage verpasst hat, hätte damit 30 % der in den letzten fünf Jahren erzielbaren Rendite liegen lassen.
3. Wenn Sie vernünftig – sprich mit ETF weltweit diversifiziert – investiert haben, dann haben Sie beste Voraussetzung, die Krise unbeschadet zu überstehen, wenn Sie zwischendrin keine Kurzschlusshandlung begehen. Solange die freie Marktwirtschaft besteht, muss sich ein solches Portfolio früher oder später wieder erholen. Rückgänge wie im Moment sind daher eine gute Gelegenheit, um beherzt nachzukaufen.
4. Jetzt wird es ein bisschen komplizierter, dafür aber umso spannender. Denn jetzt kommt der endgültige Knock-out für Andreasʼ Argumentation: Schauen wir uns dazu einmal an, wie eigentlich ein Aktienkurs entsteht. Vereinfacht gehen in den aktuellen Preis einer Aktie drei Faktoren ein:
- die aktuelle Ertragskraft eines Unternehmens,
- die Erwartung, wie sich diese Gewinne in Zukunft entwickeln werden,
- die Einschätzung, mit wie viel Risiko diese Erwartungen verbunden sind.
Je optimistischer die Erwartung von Gewinnen und Gewinnwachstum ist und je geringer das Risiko eingeschätzt wird, desto höher der Aktienkurs – und natürlich auch umgekehrt. Wenn als schon „jedem seit Langem absolut klar gewesen ist, was passieren würde“ – dann wären die Aktienkurse also schon seit Langem so niedrig, wie sie es gerade jetzt sind. Die Börse handelt eben Erwartungen und Einschätzungen, nicht Fakten. Fakten sind nur dann relevant, wenn sie zu neuen Einschätzungen führen.
Waren Trumps Zölle und die Entwicklungen am Markt vorhersehbar?
Es liegt also nahe, dass Andreas es erst hinterher schon vorher gewusst hat, zumal er auf näheres Nachfragen gar nicht genau weiß, wie Trumps Strafzölle eigentlich genau aussehen, geschweige denn, dass er mir erklären kann, welche Form von Zöllen er eigentlich im Vorfeld so – wie offenbar jeder andere auch – genau erwartet hatte. Zufällig die, die jetzt in Kraft getreten sind?
Gelegenheiten, es hinterher schon vorher gewusst zu haben, gab es in den letzten 15 Jahren genügend. Mit dem einzigen Schönheitsfehler, dass hinterher gar nichts passiert ist:
- Der Kapitalmarkteinbruch nach der Atomkatastrophe von Fukushima – nach drei Wochen vorbei.
- Die permanente Eurostaatsschulden-Krise, die nichts daran änderte, dass die Märkte ab Mitte 2012 weitgehend nur eine Richtung kannten: nach oben.
- Die Kurskorrektur nach dem Brexit – vergessen nach einer Woche.
- Ganz zu schweigen vom Kollaps der Märkte nach Trumps erstem Wahlsieg: Stimmt, den gab es gar nicht. Was Trumps erstem Wahlsieg folgte, war eine fast zwei Jahre andauernde Kurs-Rallye.
Andreasʼ Versuch, rationale Begründungen zu finden, die es klug, ja offensichtlich erscheinen lassen, jetzt aus dem Markt auszusteigen, haben also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit emotionale Gründe: Wenn das eigene Vermögen – also Ihr Wintervorrat – in Gefahr scheint, ist es kein Wunder, dass das Stresslevel steigt. Das können Sie gar nicht verhindern und das ist auch erst mal völlig normal. Wichtig ist nur, dass Sie keine Entscheidungen fällen, solange Sie nicht auf Ihren Neocortex zugreifen können.
Ja, wir wissen auch nicht, wie es weitergeht. Was wir aber wissen, ist, dass wir auf der Basis nachweislich nicht Erfolg versprechender Rezepte keine Verantwortung für unsere Mandanten übernehmen können.
Liebe Grüße
Nikolaus Braun und Stefan Heringer
Drei lesenswerte Blogs zu Stress und Verhalten in Krisen am Kapitalmarkt:
- „Das war doch absolut klar, dass das passiert!“ zum Hindsight Bias.
- Der Notfallplan der Neunundvierzig Honorarberatung.
- Einige konkrete Übungen, wie Sie mit akutem Stress umgehen: Stress? Es sind „nur“ die Hormone!
09/04/2025