von Stefan Heringer
Sehr geehrte Damen und Herren,
Der DAX verliert fünf Prozent, der S&P 500 wackelt. Die Nachrichtenlage: nervös bis panisch. Was sagt Ihr Bauchgefühl? Wahrscheinlich ruft es: „Raus da – bevor’s schlimmer wird!"
Willkommen beim Recency Bias – der kognitiven Verzerrung, durch die sich Anleger allein von aktuellen Marktbewegungen leiten lassen und dabei den langfristigen Blick verlieren.
Recency Bias erklärt: Warum aktuelle Marktentwicklungen unser Denken verzerren
Es ist äußerst schwer, Märkte über einen längeren Zeitraum hinweg rational zu betrachten, weil unser Gehirn aktuelle Informationen stärker gewichtet. Jüngste Erfahrungen erscheinen uns bedeutsamer als länger zurückliegende Ereignisse.
Nehmen wir zum Beispiel die Kapitalmarkthistorie der letzten zwanzig Jahre und unterteilen diese in vier aufeinanderfolgende Fünfjahreszeiträume. Die meisten Menschen messen – bewusst oder unbewusst – den letzten fünf Jahren die größte Bedeutung bei. Doch diese Gewichtung ist für eine rationale Beurteilung schlichtweg falsch. Es existieren Daten aus über 150 Jahren Kapitalmarkthistorie – da ist die Entwicklung eines so kurzen Zeitraums wenig aussagekräftig.
Weitere Beispiele gefällig?
März 2009 – Die Finanzkrise hat die Welt im Griff, der S&P 500 liegt über 50 % unter seinem Allzeithoch. Wer zu diesem Zeitpunkt ausgestiegen ist, weil „es angesichts der katastrophalen Nachrichtenlage ja noch weiter bergab gehen musste“, verpasste eine der stärksten Aufwärtsbewegungen der Börsengeschichte.
Das gibt es natürlich auch in die andere Richtung.
Herbst 2024 – Viele Anleger blicken seit Jahren gebannt auf die fulminanten Kursgewinne der großen US-Tech-Werte. Was stark gestiegen ist, wird automatisch als sicher oder zukunftsfähig wahrgenommen. Recency Bias in Reinform. Wir überschätzen die Bedeutung der jüngsten Entwicklung – und vergessen dabei, dass auch Tech-Giganten nicht immun gegen Korrekturen sind. Ähnliche Muster gab es schon vor dem Platzen der Dotcom-Blase. Auch damals glaubte man: „This time is different.“ War es nicht. Kurioserweise ist das heute jedem klar. Anfang 2000 klang das auch bei vielen Experten noch ganz anders.
Warum kurzfristige Marktbewegungen Anleger oft in die Irre führen
Am Kapitalmarkt sind Zeiträume von Quartalen oder gar einzelnen Jahren kaum relevant. Wer Anlageentscheidungen auf Basis der Schlagzeilen der letzten Monate trifft, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit scheitern. Märkte verlaufen nicht in geraden Linien. Sie springen, stolpern, rennen, verharren. Und die größte Rendite entsteht oft genau in den Momenten, in denen man sie am wenigsten erwartet.
Langfristig investieren: Vermeiden Sie emotionale Entscheidungen
Das Jetzt ist laut. Die Zukunft ist leise. Haben Sie eine gute Strategie? Dann bleiben Sie dabei – gerade dann, wenn es sich emotional falsch anfühlt. Lassen Sie sich vom ganzen Lärm am Kapitalmarkt nicht aus dem Konzept bringen.
Alles Liebe
Stefan Heringer
P.S.: Ich freue mich auf Rückmeldungen unter: nachdenken@neunundvierzig.com
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