von Stefan Heringer
Wir klagen häufig über Stress, die schnelllebige Welt, das Fehlen ruhiger Phasen und mangelnde Zeit, einfach mal innezuhalten und nichts tun zu müssen. Das ist sicher nachvollziehbar, wird doch unser Leben durch Internet, Smartphones, ständige Erreichbarkeit und dem Vorhandensein von allerlei Ablenkungsmöglichkeiten – zumindest gefühlt – immer hektischer.
Aber fühlt man sich bei Ruhe und Müßiggang tatsächlich besser? Eine Studie des amerikanischen Sozialpsychologen Timothy Wilson, über die ich vor Kurzem gestolpert bin, legt das Gegenteil nahe.
Wilson und sein Team stellten Probanden vor die simple Aufgabe, sich minutenlang in einem Zimmer auf einen Stuhl zu setzen und nichts zu tun, außer den eigenen Gedanken nachzuhängen. Gegenstände zur Ablenkung wie Handy oder ein Buch waren nicht erlaubt. Befragt nach ihrem Wohlbefinden, fand der Großteil der Teilnehmer die Situation ausgesprochen unangenehm. Darüber hinaus taten sich die Menschen sehr schwer, sich auf ein Thema zu konzentrieren, und ihre Gedanken wanderten ständig hin und her.
Doch wie weit würden Menschen im Zweifelsfall gehen, um dieser für sie unangenehmen Situation zu entfliehen und sich zumindest mit irgendetwas zu beschäftigen? Um das herauszufinden, spitzten die Forscher den Versuch im letzten Durchlauf weiter zu und ließen einem Teil ihrer Probanden die Wahl, sich während des Nichtstuns per Knopfdruck selbst unangenehme Elektroschocks zu verpassen. Das überraschende Ergebnis: Etwa ein Viertel der weiblichen und zwei Drittel (!!) der männlichen Versuchsteilnehmer drückten innerhalb von 15 Minuten mindestens einmal den Knopf! Dabei hatten die Probanden zuvor alle bereits testweise diesen Stromstoß bekommen und angegeben, dass sie lieber fünf Dollar zahlen würden, als diese Erfahrung noch einmal zu erleben.
Diese Erkenntnisse aus der Studie sind ein schöner Beleg für eine kognitive Verzerrung, die wir schon häufiger thematisiert haben, den Action Bias. Die Disposition von Menschen, in Stresssituationen irgendwie zu agieren, auch wenn dieses Agieren nachweislich kontraproduktiver ist, als nichts zu tun. Ganz offenbar scheint uns Passivität so unangenehm zu sein und Nichtstun so hohe Selbstdisziplin abzuverlangen, dass sich viele Menschen lieber Schmerzen zufügen. Entsprechend fassten die Forscher die Ergebnisse ihrer Studie in einem ebenso provokanten wie amüsanten Statement zusammen:
„People would rather be electrically shocked than left alone with their thoughts!“
In einer Krisensituation wie bei einem deutlichen Einbruch an der Börse ist nichts zu tun noch mal um ein Vielfaches schwieriger zu ertragen, als wenn man einfach nur auf einem Stuhl sitzen soll. Im Kopf der Anleger drehen sich die Szenarien, was alles in den nächsten Wochen und Monaten noch passieren könnte und wie sich das auf welchen Bereich der Wirtschaft und damit auf ihr Portfolio auswirken könnte. Und schon ist man dabei abzuleiten, was am besten zu tun ist – und natürlich möglichst schnell … Übrigens: Der in der obigen Studie beobachtete Geschlechterunterschied lässt sich auch am Kapitalmarkt beobachten: Frauen neigen deutlich weniger zu übertriebenem Aktionismus und erzielen so bei gleichem Risiko langfristig messbar bessere Ergebnisse als Männer.
Ihr Honorarberater rät: Nichtstun verhindert Schmerzen
Also: Wenn Sie in der nächsten Stresssituation am Kapitalmarkt meinen, dringend etwas tun zu müssen: Widerstehen Sie diesem Impuls, er ist mit einer hohen Wahrscheinlichkeit schädlich für Ihr Vermögen.
Trotz – oder gerade wegen – der Erkenntnisse aus der Studie wünsche ich Ihnen möglichst viel Zeit zum entspannten Reflektieren: Die höchste Kreativität und die besten Ideen entstehen nämlich in Phasen völliger Erholung und scheinbarer Untätigkeit. Aber natürlich nur, wenn Sie sich dabei keine Stromstöße verpassen …
Alles Liebe
Stefan Heringer
P.S.: Ich freue mich auf Rückmeldungen unter: nachdenken@neunundvierzig.com
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