von Stefan Heringer
Sehr geehrte Damen und Herren,
was das Anlageverhalten angeht, gibt es eine sehr erfreuliche Nachricht: Immer mehr Anleger in Deutschland investieren Statistiken zufolge am Kapitalmarkt. Die Anzahl der Menschen, die an der Börse vor allem in Aktien, aber auch Anleihen allokieren, steigt kontinuierlich an. Viele Privatanleger nutzen dafür auch verstärkt ETFs oder Indexfonds für ihre Anlageentscheidungen, die entsprechenden Anbieter verzeichnen regelmäßig Rekordzuwächse. Das ist grundsätzlich sehr positiv und stimmt optimistisch für die viel gescholtene Anlagekultur hierzulande.
ETFs: Instrument für die langfristige Anlage und/oder Spielzeug zum Zocken?
Ein Wermutstropfen bleibt aber. Es ist erstaunlich, wie gering die durchschnittliche Haltedauer und wie hoch entsprechend damit die Umschlagshäufigkeit in ETFs ist – und das, obwohl diese Instrumente ja eigentlich optimal für eine langfristige Strategie geeignet sind.
Auch bei vielen befreundete Honorarberatern, Kollegen von ETF-Anbietern und anderen rationalen Finanzprodukten herrscht darüber immer wieder eine starke Ernüchterung. Viele Anleger nutzen ETFs immer noch in erster Linie als Trading-Instrument gerade wegen ihrer günstigen Kosten. Und das vernichtet, wie wir in unserem Beitrag Finger weg von ETFs schon einmal ausführlich ausgeführt haben, nachweislich Vermögen.
Die (fast) unwiderstehliche Versuchung, schlauer zu sein als alle anderen
Wir wissen sehr wohl, dass es sehr verlockend ist, zu versuchen, das Optimum aus seinen Anlagen herauszuholen und es immer wieder zumindest zu versuchen. Was für einen immensen Hebel würde man auf seine langfristige Rendite haben, wenn man sich wenigstens die gröbsten Einbrüche ersparen würde. Zumal im Rückblick – Stichwort Hindsight Bias – Krisen wie Boom-Phasen völlig klar und unvermeidbar erscheinen. Dennoch ist Timing keine Erfolg versprechende Strategie. Denn Sie müssen zweimal richtig liegen. Einmal beim Ausstieg und – mental noch schwieriger – beim Wiedereinstieg.
Attraktive Renditen trotz zahlreicher Krisen
Hierzu ein Gedankenexperiment mit echten Zahlen: Stellen Sie sich vor Sie, hätten in der Periode von Anfang 1994 bis Ende 2023 Ihr Kapital in den breiten US-Aktienmarkt investiert, etwa über einen ETF auf den S&P 500, also den Index, der die 500 größten börsennotierten US-Unternehmen abbildet. In dieser Zeit gab es – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – eine ganze Reihe Krisen und Korrekturen:
• 1997: Asienkrise
• 2000: Platzen der DotCom-Blase
• 2001: 11. September
• 2002: Auflösung der Wirtschaftsberatung Arthur Andersen nach den Bilanzmanipulationen bei Enron und Worldcom (2001)
• 2003: Krise vor dem zweiten Irakkrieg
• 2008: Zusammenbruch von Lehman Brothers, Finanzkrise
• 2009ff.: Dauer-Eurokrise (mit gefühlt wöchentlichen Krisensitzungen, um das Auseinanderbrechen der Eurozone zu verhindern)
• 2011: Reaktorkatastrophe Fukushima
• 2016: Brexit
• 2020: Beginn Corona-Pandemie
• 2022: Beginn Ukrainekrieg
Trotz all dieser global ausstrahlender Ereignisse hätten Sie Ihr Kapital in den letzten 30 Jahren gemessen am S&P 500 mehr als verachtzehnfacht. Die Wucht des Zinseszinses ist immer wieder überwältigend.
Der Versuch zu optimieren, frisst Löcher in Ihr Vermögen
Und was wäre passiert, hätten Sie versucht, den Markt zu timen und dabei lediglich die besten zehn Tage in diesem 30-jährigen Zyklus verpasst? Laut einer Studie von Morning Star hätten Sie dabei mehr als 50 % Ihrer Rendite verpasst! Wenn Sie die besten 30 Tage verpasst hätten, wäre Ihre Rendite sogar um 83 % geringer ausgefallen.
Natürlich ist uns bewusst, dass vermutlich niemand so viel Pech hat, nur und exakt an diesen Tagen nicht investiert zu sein. Und um gleich eine implizite Frage vorwegzunehmen: Die Rendite wird natürlich signifikant besser, wenn man es schaffen würde, die schwächsten Tage zu vermeiden. Aber die schlechte Nachricht: Niemand weiß, wann diese Renditeschübe und natürlich ebenso die Einbrüche kommen. Der heilige Grahl des Asset Managements wurde bis heute nicht gefunden.
"Erstmal" aussteigen, ist so ziemlich das Dümmste, was Sie tun können
Das Rechenexempel zeigt also wunderbar: Die Rendite am Aktienmarkt wird meist in sehr kurzen Perioden, oft nur wenigen Tagen oder Wochen erzielt. Wenn man diese starken Tage nicht mitnimmt, leidet die langfristige Rendite massiv darunter. Und noch etwas: Die Hälfte dieser starken Einzeltage lag innerhalb sogenannter Bärenmärkte, also innerhalb schlechter Marktphasen; mehr als ein weiteres Viertel innerhalb der ersten zwei Monate, nachdem der Markt wieder nach oben gedreht war. Auch vor dem Hintergrund ist es Unsinn, in schwachen Marktphasen „erst mal“ auszusteigen und zu warten, bis sich alles beruhigt hat.
Dauerhaft Investieren schont Kapital und Nerven
Für einen langfristig orientierten Investor lautet die einzig rationale Antwort also, investiert zu sein und es auch zu bleiben. Nur so partizipieren Sie an der dauerhaften weltweiten Wertschöpfung und können attraktive Renditen ernten. Wenn Sie das einmal begriffen haben, schont es nicht nur Ihr Vermögen, sondern auch Ihre Nerven, weil Sie sich nicht mehr den Kopf über Dinge zermartern müssen, die für den Anlageerfolg nicht relevant sind.
Alles Liebe
Ihr
Stefan Heringer
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07/09/2024